September 15, 2019

„Fast ganz die Deine“ von Marcelle Sauvageot

“Es war ganz natürlich, dass Sie mir von Ihrer Freundschaft erzählten, die nun reiner, da von Verlangen, Eifersucht, Erwartungen frei sei. Man muss etwas geben; also denkt man an Freundschaft, diese edlere Schwester der Liebe, man bietet sie an und versucht dabei darzulegen, dass sie viel besser sei als die Liebe, die man vorher gab und die man nun einer anderen gibt.
Sie sind ziemlich überzeugend; übrigens ist man nie so überzeugend, wie wenn man in Ihrer Lage ist. Das man sicher erst einmal selbst überzeugen muss, findet man geschickte Argumente und einen herzlichen, überaus wirksamen Ton. Und wenn man mit seiner Beweisführung fertig ist, ist man so zufrieden mit seiner Leistung, dass die angesprochene Person, wenn sie nicht überzeugt ist, wirklich nur einen schlechten Charakter haben kann.”

aus: Fast ganz die Deine von Marcelle Sauvageot

Es gibt diesen wohlgemeinten und so freundlich daher kommenden Satz: Lass uns Freunde bleiben. Wogegen nichts zu sagen wäre. Außer, dass das mit der Freundschaft doch so selten gelingt, in den seltensten Fällen ernst gemeint und meist einfach nur der Versuch eines feigen Abgangs ist.

Was sich Freundschaft nennt, endet dann in obligatorischen Weihnachtswünschen, dem Gruß zum Geburtstag, einem Aufblitzen auf der facebook-Timeline. Was so erwachsen und reif scheint, ist nur fehlende Ehrlichkeit und versteckte Feigheit.
Was hätte ich mir den Mut von Marcelle Sauvageot gewünscht. Sie hat die einzige mögliche und die wahre Antwort auf ein schales Freundschaftsangebot geliefert. An Tuberkulose erkrankt, reist sie von Paris ins Sanatorium nach Hauteville und findet dort einen Brief ihres Verlobten. Ein Abschiedsbrief. “Ich heirate… Unsere Freundschaft bleibt.”

Fast ganz die Deine ist das einzige Buch, das sie geschrieben hat und es ist eigentlich kein Buch, sondern vielmehr ein Brief. Ein Brief, den ich selbst im Kopf oder auf Papier schon so viele Male geschrieben habe und dann doch nie abgeschickt. Sie hat es auch nicht getan.
Er wurde erst nach ihrem Tod verlegt. Das Buch ist von einer Offenheit, die mich den Atem anhalten lässt. Er enthält alles, was in dem Moment tiefster Verletzlichkeit gesagt werden sollte. Die klarste Antwort, die es auf das Angebot der Freundschaft gibt. Da ist kein vermeintliches Drüber stehen, nichts Abgeklärtes. Da ist eine schonungslose und offene Verletzlichkeit, die so klar und deutlich ist und darin so viel ehrlicher, mutiger und aufrichtiger als jede müde und so erwachsen scheinende Freundschaftsbekundung.

Es ist nur ein ganz kleines Buch. Knapp hundert Seiten und davon nehmen das Vorwort und die Erläuterungen noch Platz ein.

Aus der Zeit gefallen ist dieses Buch. Und doch wieder nicht. Weil was sie über Freundschaft, Liebe und Enttäuschung sagt, so zeitlos ist. So gar nicht freundlich daher kommt, sondern fordernd ist, ehrlich, aufrichtig, berührend.
Freundschaftlich.

“Wissen Sie denn, was Freundschaft ist? Glauben Sie, es sei ein laueres Gefühl, das sich mit den Resten und den kleinen Diensten begnügt, die einander zu erweisen man nicht vermeiden kann? Freundschaft, so glaube ich, ist eine Liebe, die stärker und ausschließlicher ist … doch weniger marktschreierisch. Auch die Freundschaft kennt die Eifersucht, die Erwartung, das Verlangen…”

… denn ich kann nicht reden, wenn es darauf ankommt, und nicht im richtigen Ton. Ich bin dann zu bewegt und verhärte mich, um mich vom Gefühl nicht überwältigen zu lassen. Wie soll man den innerern Aufruhr, den ein Gefühl auslöst, in eben dem Moment, da es stattfindet, ganz mitteilen?”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hit enter to search or ESC to close