September 14, 2019

„Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky

Ich habe es zuerst von hinten gesehen. Das Buch. Ein Satz: “Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben.” Den Rest habe ich gar nicht mehr wahrgenommen. Ich wusste, dass es sich dafür alleine schon lohnt.
Nichts kommt an “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” heran, aber das Buch “Was man von hier aus sehen kann” ihm ziemlich nah.

Es ist gutgegangen. Sehr gut. Schon bevor es überhaupt anfing.
Mit dem Prolog.
Mariana Leky schreibt über Selma und wie es ist, wenn man lange auf etwas geschaut hat und dann die Augen schließt. Über das Nachbild, das bleibt. “Es taucht auf, wenn man die Augen kurz ausruhen will, weil man lange auf eine Nebenkostenabrechnung geschaut hat, die man nicht versteht. Wenn man abends am Bett eines Kindes sitzt, ihm eine Gutenachtgeschichte erzählt und einem der Name der Prinzessin oder ihr gutes Ende einfach nicht einfallen will, weil man selbst schon sehr müde ist. Wenn man die Augen schließt, weil man jemanden küsst. Wenn man auf dem Waldboden liegt, auf einer Untersuchungsliege, in einem fremden Bett, im eigenen. Wenn man die Augen schließt, weil man etwas sehr Schweres hochhebt. Wenn man den ganzen Tag herumläuft und nur anhält, um sich den aufgegangenen Schnürsenkel zuzubinden, und jetzt, mit dem Kopf nach unten, erst merkt, dass man den ganzen Tag über nie angehalten hat. Es taucht auf, wenn jemand “Mach mal die Augen zu” sagt, weil man überrascht werden soll. Wenn man sich gegen die Wand einer Umkleidekabine lehnt, weil auch die letzte der infrage kommenden Hosten nicht passt. Wenn man die Augen schließt, kurz bevor man beispielsweise sagt: “Ich liebe dich” oder “Ich dich aber nicht”. Wenn man nachts Bratkartoffeln macht. Wenn man die Augen schließt, weil jemand vor der Tür steht, den man keinesfalls hereinlassen will. Wenn man die Augen schließt, weil gerade eine große Sorge abgefallen ist, man jemanden oder etwas wiedergefunden hat, einen Brief, eine Zuversicht, einen Ohrring, einen entlaufenen Hund, die Sprache oder ein Kind, das sich zu gut versteckt hat.”

Der Prolog ist nur ein ungeliebter Zwischenstop, bevor es richtig losgeht. Einführungen sind für Anfänger. Nach der erste Seite, will man vorwärtskommen. Darum geht es doch. Das hat einen das Leben gelehrt, das verlangt der Alltag einem ab. Wollte ich auch. Ich habe dennoch nochmals von vorne angefangen. Weil es so schön war, weil ich dachte, genau. Genau so. Weil es die kleinen, klitzekleinen Momente einfängt und sie verwebt. Die vielen kleinen Wiederholungen in ihrer Einzigartigkeit verbindet zu einem Rhythmus. Es ist ein kluges Buch, ein sehr lustiges, ein trauriges, ein schweres, ein leichtes. Es ist ein Buch, in das ich einziehen wollte, in dem ich mich zu Hause gefühlt habe, von dem ich nicht wollte, dass es aufhört und nicht aufhören konnte, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht. Es passiert viel und gleichzeitig bleibt vieles so unveränderlich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hit enter to search or ESC to close